
Glemser sorgt für klassische Tastenkunst
Konzert in Braubacher Barbarakirche: Werke von Mendelssohn-Bartholdy und Chopin interpretiert
Braubach. Mit Bernd Glemser spielte jetzt ein Pianist der Spitzenklasse in der Barbara-kirche. Außer den 18 „Liedern ohne Worte“ von Felix Mendelssohn-Bartholdy stand Frédéric Chopin mit fünf Kompositionen, Ballade sowie Mazurkas und Nocturnes auf dem Programm.
Das Konzert beginnt mit einer schönen Melodie, die zu einem Ohrwurm werden kann, wenn man sie mehrmals hört oder selbst spielt. Ein „Andante con moto“ mit ruhiger Bewegung, das sich auch für die Hausmusik eignet. Glemser macht das unangestrengt wie locker, aber nicht beiläufig. Das Klavier singt bei Glemser tatsächlich – froh, hell, mit Leichtigkeit und Gelassenheit vorgetragen. Glemser schöpft die Singbarkeit der Kompositionen aus und verbreitet damit Freude, auch beim folgenden „Agitato“. Die Melodien steigen auf, werden mit Leichtigkeit umspielt und geraten in perlende und gleitende Bewegung.
Die Leichtigkeit der gleitenden Bewegung im Dreivierteltakt bleibt auch im Venezianischen Gondellied (Andante sostenuto in g-moll) erhalten, ein Stück, dessen ruhiges, mäßiges Tempo entspannt und zu Assoziationen anregt. Auch die übrigen Titel sind mal ein Gang, dann wieder ein Schlendern durch musikalische Landschaften, und der Zuhörer streift mit ihnen durch Stimmungen und Gefühlszustände, gerät dann und wann in heftige Bewegung, bis hin zum wirbelnden „Presto“. Besorgnisse tauchen auf, Ernsthaftes, Elegisches und Leidenschaftliches. Doch die aufwallenden Emotionen finden dann wieder auf den Weg des Liedes und der schlichten Melodie zurück.
Die Zuhörer können die Augen schließen und sich ihren Gedanken und Assoziationen hingeben. Das Publikum ist am Schluss der „Lieder ohne Worte“ begeistert und spendet dafür starken Beifall.
Nach der Pause ist Chopin-Zeit. Die Mazurka b-moll op. 24 Nr. 4 und das Scherzo Nr. 4 in E-Dur op. 24 („Presto“) sind zwei Beispiele fürs Gegensätzliche. Für das eine ist nuancierendes Gefühlsverständnis erforderlich, für das andere zudem die brillante Spieltechnik. Die letzte der vier Mazurkas op. 24 in b-moll beginnt mit einem Oktavsprung in die Höhe, steigt dann in Halbtonschritten herab und geht in eine traurige Melodie über. Das ist kein Walzer für die Tanzfläche, sondern einer für den Pariser Salon. Das kurze Thema zeugt von Melancholie, ist gar von Trauer überschattet. Der Takt stockt und enthält Pausen und Verzögerungen, sodass man nicht sofort entscheiden kann, ob es sich um einen Dreier- oder um einen Vierertakt handelt. Eine Depression oder depressive Verstimmung scheint in diesem Stück anzuklingen. Hier braucht es Einfühlung in die Seelen- und Stimmungslage des Komponisten, vielleicht auch eigene Erfahrungen in dieser Richtung, um diese Musik authentisch interpretieren zu können.
In dem anderen Stück dominiert die genaue und brillante Darbietung. Hohe Virtuosität wird geboten. Wer auf das Notenblatt des Scherzos mit seinen vier Kreuzen der E-Dur-Tonart und seiner komplexen Notation und polyfonen Linienführung geschaut hat, der mag ahnen, dass dies nur ein Könner wird spielen können. Bernd Glemser spielt es kongenial.
Und die Zuhörer drücken ihren Enthusiasmus durch minutenlanges Klatschen aus. Und „zwingen“ den Tastenkünstler, ein Dutzend Mal zurück in den Spielraum zu kommen. Karl-Heinz Wolter
Rh.-Lahn-Ztg. Bad Ems vom Dienstag, 3. August 2010, Seite 19